Es gibt im Kickboxen nichts spannenderes als Turniere, insbesondere dann, wenn der beste Schwergewichtler der Welt darin mitmischt. Dies ist unsere Vorschau auf Glory 77.
2021 ist noch jung und hat uns schon einige Kampfsport-Kracher beschert. Auch die Kickbox-Champions-League Glory beginnt ihr Wettkampf-Jahr mit einem echten Mega-Event: Glory 77 wartet mit drei hochkarätigen Titelkämpfen sowie einem Schwergewichtsturnier auf, an dem der Champion selbst beteiligt ist.
Eigentlich hätte „King of Kickboxing“ Rico Verhoeven ein drittes Mal auf den Belgier Jamal Ben Saddik treffen sollen. Zwischen beiden steht es eins zu eins, jeder hält einen K.o. über den anderen – der Trilogie-Fight ist also eigentlich ein Muss. Doch 11 Tage vor dem Event zog Ben Saddik wegen einer Rückenverletzung zurück. Glory musste umplanen und stellt kurzerhand dieses Turnier auf die Beine. Das ist nicht weniger spannend, denn das Teilnehmerfeld ist mit dem erfahrenen Haudegen Hesdy Gerges, dem debütierenden One-Veteran Tarik Khbabez und dem ungeschlagenen Shooting-Star Levi Rigters absolut top besetzt. Das einzige Manko: Verhoevens Titel steht dabei nicht auf dem Spiel.
Auch ohne WM-Titel dürfte das Schwergewichtsturnier von Glory 77 aber eines der Kampfsport-Highlights des Jahres werden. Grund genug, die Stärken und Schwächen der Teilnehmer eingehend zu analysieren.
Stärken Verhoeven
Perfekte Technik
Rico Verhoeven ist ein Sechser im Lotto für Kickbox-Ästheten. Seine Technik ist makellos, blitzsauber und das Ergebnis jahrzehntelanger, akribischer Arbeit im Gym, erst mit dem Vater, der selbst Karate-Schwarzgurt ist, später mit Dennis Krauweel, in dessen Superpro Sportcenter er seit der Jugendzeit trainiert. Verhoeven ist Kampfsportler seit er fünf ist – also seit 26 Jahren. In dieser Zeit gab es wenige Tage, an denen er nicht an seiner Technik gefeilt hat. Er ist ein fleißiger Arbeiter, ein geradezu besessener Perfektionist. Ihn auf der technischen Ebene zu besiegen, dürfte deshalb geradezu unmöglich sein.
Athletik
Agile Schwergewichte sind im Kickboxen selten, insbesondere wenn sie an die zwei Meter messen. Verhoeven ist für sein Größe von 1,96 Meter und sein Kampfgewicht von 118 Kilo extrem schnell und beweglich, seine Beinarbeit gleicht der eines Mittel- oder Weltergewichts. Das ermöglich es ihm, Treffer zu setzen, ohne selbst getroffen zu werden, was uns zur nächsten Stärke Verhoevens bringt:
Defensivarbeit & Ringintelligenz
Seine Defensivarbeit ist exzellent. Im Schnitt kassiert Verhoeven nur 6,5 Schläge pro Minute. Zum Vergleich: Bei seinem Halbfinalgegner Hesdy Gerges sind es mit 11,2 fast doppelt so viele. Verhoeven besitzt außerdem eine herausragende Ringintelligenz und nutzt seine Stärken perfekt, um Gegnern seinen Stil aufzuzwingen und eigene Schwächen dadurch zu neutralisieren. Er bleibt konsequent auf Distanz, nutzt seine Beinarbeit und Reichweite und punktet Gegner aus, ohne selbst viel getroffen zu werden. Zu unüberlegten Aktionen oder wilden Schlagabtauschen, in denen er am verwundbarsten wäre, lässt er sich so gut wie nie hinreißen.
Erfahrung
Sechs Jahre auf dem Kickbox-Olymp als Glory-Champion, mit neun erfolgreichen Titelverteidigungen. Dazu Kämpfe – und Siege – gegen praktisch jedes namhafte Schwergewicht seiner Generation. Rico Verhoevens Resümee ist beeindruckend und selbst Kritiker müssen einsehen, dass Verhoeven aktuell wohl der beste Kickboxer der Welt ist. Diese Erfahrung, die Serie von zuletzt 12 Siegen in Folge und vor allem das daraus erwachsende Selbstvertrauen sind gegen jeden Gegner auf der Welt ein ganz massiver Vorteil.
Schwächen Verhoeven
Fehlende KO-Power
56 Siege, nur 17 davon vorzeitig – das ist eine magere Quote für ein Schwergewicht. Der rechte Haken gegen Teamkollege Benjamin Adegbuyi 2015 war Verhoevens einziger echter Knockout in Glory. Davon abgesehen holte er in der Kickbox-Champions-League nur drei weitere vorzeitige Siege, gegen „Braddock“ und „Big Foot“ Silva sowie im Rückkampf gegen Jamal Ben Saddik. Badr Hari und Errol Zimmermann mussten wegen Verletzungen die Segel streichen.
Bislang hat Verhoevens mangelnde K.o.-Gefährlichkeit ihm nie geschadet, in diesem Turnier könnte das jedoch anders sein. Denn bei mehreren Kämpfen an einem Abend profitiert natürlich derjenige Turnierteilnehmer, der mit schnellen Siegen ins Finale einzieht und dort noch die meiste Energie zu Verfügung hat.
Turniererfahrung
One-Night-Turniere haben im Kickboxen eine lange Tradition und sind aufgrund ihrer Spannung und Unberechenbarkeit bei Fans beliebt. Verhoeven hat als Profi zwei solcher Turniere bestritten, aber nur eins gewonnen, als er sich bei Glory 11 seine Titelchance verdient hat. Weil er sich den Titel wenig später bei Glory 17 geschnappt und seitdem nicht mehr hergegeben hat, stand er auch in keinem weiteren Turnier – bis jetzt.
Gerges, Khbabez und Rigters hatten bisher ähnlich viel Turniererfahrung wie Verhoeven, teils aber mehr Erfolg: Hesdy Gerges stand bisher zwar nur in einem One-Night-Turnier, bestritt darin aber drei Kämpfe und schied erst im Finale aus. Tarik Khbabez und Levi Rigters absolvierten – und gewannen – beide schon zwei solcher Vier-Mann-Turniere, Rigters sogar in seinen letzten vier Kämpfen. Daran gewöhnt zu sein, nach einem hart erkämpften Sieg noch ein weiteres Mal raus in den Ring zu müssen, ist ein unglaublicher mentaler Vorteil.
Umgang mit Gegentreffern
Verhoeven nutzt seine Reichweite perfekt und ist deshalb nur schwer zu stellen. Wird er aber doch mal getroffen, reagiert er alles andere als souverän, wie nicht zuletzt die beiden Kämpfe gegen Badr Hari gezeigt haben. Gegentreffer bringen Verhoeven leicht aus dem Konzept, er verfällt dann zu schnell in den Rückwärtsgang, verliert die Übersicht und begeht Fehler, die seinen Gegnern die Chance zu einem Knockdown oder gar Finish eröffnen.
Die Gegner
So viel zu den Stärken und Schwächen von Rico Verhoeven. Zeit, einen Blick auf die seiner Gegner zu werfen.
Hesdy Gerges
Böse Zungen behaupten, mit Hesdy Gerges hätte Rico Verhoeven ein Freilos fürs Finale bekommen, weil er ihn in seiner Karriere bereits zweimal besiegt hat. Der 36-Jährige ist mit 17 Wettkampfjahren und 72 Kämpfen als Profi außerdem zwar der erfahrenste, aber auch älteste Kämpfer des Turniers und befindet sich mit nur zwei Siegen aus den letzten neun Kämpfen im Spätherbst seiner Karriere. Der Fairness halber muss allerdings gesagt sein, dass er sich dabei durchweg starken Namen wie Ismael Londt, Benny Adegbuyi oder Badr Hari gestellt und überwiegend extrem enge Schlachten geliefert hat. Gerges trägt den Spitznamen „Fighterheart“ nicht umsonst.
Zuletzt konnte er in der renommierten Enfusion-Organisation einen soliden vorzeitigen Sieg per Lowkicks einfahren. Die sind auch seine stärkste Waffe, vier Kämpfe konnte er damit bereits beenden, unzählige weitere Finishes vorbereiten. Er hat Größenvorteile, um Verhoeven zu schlagen, darf er trotzdem nicht aus der Distanz arbeiten, sondern muss den Kampf schmutzig machen, ran den Mann und dort mit Kopf- und Körperhaken und vor allem Knien attackieren. All das beherrscht Gerges aus dem Effeff, doch er ist auch 18 Kilo leichter als der Champion und weit weniger athletisch. Verhoeven seinen Stil aufzuzwingen dürfte demnach schwierig werden, Gerges ist daher klar der große Außenseiter des Turniers.
Tarik Khbabez
Tarik Khabez feiert sein Glory-Debüt, nachdem er zuvor bei One Championship einen regelrechten Durchmarsch hinlegte und erst in einem Titelkampf gegen Roman Kryklia scheiterte. Dort war er allerdings im Halbschwergewicht unterwegs, mit 1,84 ist er der mit Abstand kleinste Turnierteilnehmer. Seine mangelnde Reichweite macht er durch Aggressivität und Schlagkraft wett, der Holländer mit marokkanischen Wurzeln hat von 53 Kämpfen 46 gewonnen, 26 davon vorzeitig. Das ergibt eine KO-Quote von 57 Prozent, mehr als jeder andere im Turnier.
Er sollte sein Debüt eigentlich gegen Antonio Plazibat bestreiten, findet sich nun aber im Halbfinale dieses Schwergewichtsturniers wieder. Eine große Chance, das Problem: Er trifft dort auf Levi Rigters, der ihn um ganze 16 Zentimeter überragt. Khabez muss also konstant Druck machen und Bomben schlagen, dabei aber aufpassen, nicht selbst KO zu gehen, denn die Hälfte seiner sechs Niederlagen kassierte Khabez vorzeitig. Er hat den mit Abstand schwersten Weg zum Turniersieg.
Levi Rigters
Levi Rigters ist DIE große Schwergewichtshoffnung aus den Niederlanden. Den Zwei-Meter-Hünen umweht das Flair von Hollands legendären Kickbox-Größen und mit gerade mal 25 Jahren steht er bereits an der absoluten Weltspitze. Kein Wunder, seine Karriere verlief im Senkrechtstart: 11 Kämpfe, 11 Siege, 5 durch Knockout. Der „Judge“ feierte erst 2017 sein Profi-Debüt – direkt bei Enfusion, wo er schon im vierten Kampf den Titel im Superschwergewicht holte. Rigters ist groß, extrem talentiert, KO-gefährlich, diszipliniert und charismatisch. Soll heißen: Er besitzt Starpotential. Zuletzt gewann er das Schwergewichtsturnier von Glory 76, was ihn eigentlich in Schlagweite einer Titelchance gebracht haben müsste. Im Falle eines weiteren Turniersiegs – oder zumindest einer starken Vorstellung im Finale – kann ihm den Titelkampf keiner mehr streitig machen.
Rigters kämpft technisch ähnlich sauber wie Verhoeven, aber längst nicht so diszipliniert. Er lässt sich häufiger zu wilden oder überstürzten Attacken hinreißen, die bisher allerdings auch oft von Erfolg gekrönt waren. Ihn auf Distanz zu halten dürfte zudem schwierig werden, denn Rigters ist einer der größten Kämpfer im Turnier, extrem selbstbewusst und ein echter Geheimtipp.So viel zur Analyse der Stärken und Schwächen aller vier Teilnehmer des großen Schwergewichtsturniers von Glory 77. Den Event seht ihr diesen Samstag ab 20 Uhr exklusiv im Pay-per-View hier auf www.FIGHTING.de.